Darwinismus und Literatur

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Nicht umsonst galt Charles Darwin schon seinen Zeitgenossen als ein „Newton des Grashalms". Mit seiner Theorie von der „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" stand erstmals ein Modell zum Verständnis alles Lebendigen zur Verfügung, das die Ergebnisse verschiedener Wissensbereiche (Zoologie, Botanik, Geologie, Paläontologie, u.a.) plausibel aufnehmen und zusammenführen konnte. Darwin war es gelungen, die Entstehung, den Wandel und das Aussterben von Tieren und Pflanzen durch einen zufälligen, und dennoch gerichteten Mechanismus zu erklären, der ohne die Hypothese einzelner Schöpfungsakte auskam. Natürlich ergaben sich daraus auch neue, verstörende Antworten auf die Frage nach Herkunft und Stellung des Menschen im Kosmos, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall kontrovers diskutiert wurden.

Was Darwin für ein literaturwissenschaftliches Seminar interessant macht, ist die Tatsache, dass seine Wirkung nicht auf wissenschaftliche Diskurse beschränkt blieb. Besonders in Deutschland wurden seine Thesen sehr schnell als kulturelle Deutungsmuster aufgenommen und zu Weltanschauungen ausgebaut, die mit schlagender Evidenz etwa den „Kampf ums Dasein" auch auf allen gesellschaftlichen Feldern erkennen wollten. Auf diese Weise wird das, was zunächst „nur" Wissenschaft war (und sein wollte), in Familienblättern, durch Vorträge selbsternannter Spezialisten und „Naturphilosophen", aber eben auch in literarischen Texten popularisiert.


Wir wollen im Seminar das Phänomen des Darwinismus in Deutschland exemplarisch in den Blick nehmen, wobei sich die Diskursanalyse Michel Foucaults, eines der wichtigsten Konzepte in Literatur- und Kulturwissenschaft, als methodische Orientierung anbietet. Über seine Archäologie des Wissens wollen wir versuchen, die „diskursiven Regelmäßigkeiten" eines heterogenen Feldes zu vermessen, dessen spätere Bedeutung für die Konstitution der Klassischen Moderne kaum überschätzt werden kann. Aufmerksamkeit verdient dabei nicht zuletzt die Frage, in welcher Weise literarische Texte an den die Kultur als Ganzes betreffenden Selbstverhandlungsprozessen beteiligt sind.

Gelesen werden Texte von Charles Darwin, Michel Foucault, Ernst Haeckel, Gerhart Hauptmann, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Raabe, August Strindberg, u.a.


Literatur zum Thema: Darwinismus und Literatur
Zur Einführung:
Karl Eibl: „Darwin, Haeckel, Nietzsche. Der idealistisch gefilterte Darwin in der deutschen Dichtung und Poetologie des 19. Jahrhunderts; mit einer Hypothese zum biologischen Ursprung der Kunst". In: Helmut Henne/Christine Kaiser/Fritz Mauthner (Hg.): Fritz Mauthner - Sprache, Literatur, Kritik. Festakt und Symposion zu seinem 150. Geburtstag. Tübingen 2000 (=Reihe germanistische Linguistik 224), S. 87-108.
Eve-Marie Engels: Charles Darwin. Orig.-Ausg. München 2007 (=Denker 575) [Kap. 2 u. 3]
Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. 4. Aufl. Hamburg 2010 (=Zur Einführung 333) [Kap. 2-4]
Peter Sprengel: „Fantasies of the Origin and Dreams of Breeding. Darwinism in German and Austrian Literature around 1900". In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 102 (2010), S. 458-478.