Hauptseminar Raum und Narration in der mittelalterlichen Literatur

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Räume sind keine statischen Gebilde, die uns als unveränderbare Koordinaten unserer Existenz vorgegeben sind. Ebenso wie die Dimension der Zeit ist die räumliche Verortung in sich selbst relativ und steht in Relation zu anderen Kategorien menschlicher Existenz. Dabei verstehen wir unter 'Raum' auch nicht mehr den dreidimensionalen 'Containerraum', sondern eine relationale Verortung von Subjekten und Objekten in einem System vielgestaltiger Bezugsnetze. Spätestens der Gang zur öffentlichen Toilette konfrontiert uns mit einer ganz simplen Form der bipolaren geschlechtsspezifischen Raumkonstruktion, die gleichzeitig von kultur- und epochenspezifischen Faktoren überlagert ist und in deren Räumen dann selber wiederum sehr spezielle, körperbezogene Raumarrangements zu finden sind. Was sich in diesem Beispiel zunächst noch im dreidimensionalen Containerraum beschreiben lässt, wird zu einer mehrdimensionalen Räumlichkeit bei der Analyse sozialer Ordnungen und Interaktionsbeziehungen. die nur noch unvollkommen in dreidimesionalen Modellen beschrieben werden können. In der Dichtung werden solche Räume narrativ entworfen und bilden damit einerseits bestehende Raumkonstellationen eines definierbaren kulturhistorischen Moments ab. Zum anderen werden im virtuellen Raum dichterischer Imagination neue Raumkonstellationen entworfen und erprobt, die dann wiederum ein Interaktionsverhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit eingehen. Vor allem aber ist die Narration als Prozess des Erzählens selber in sich räumlich geordnet und mit der Dimension der Zeit verknüpft. Eine Narration kennt Orte des Erzählens, der Reflexion, der Vorausdeutung, der Zeitlosigkeit, richtet ihren Figuren heimliche Orte ein, nimmt die Rezipienten mit an imaginäre Orte und muss sich selber einen Ort der Rezeption zuweisen. Die vielfältige Verschränkung von Narration und Raum wollen wir am vormodernen Erzählen des deutschen Mittelalters analysieren und so versuchen, aus der literatur- und kulturhistorischen Distanz den eigenen Standort wiederum genauer zu fokussieren. Dazu werden wir uns im Seminar zunächst dem sogenannten 'spatial turn' widmen, die Kategorien raumtheoretischer Analyse und Begrifflichkeit kritisch sichten, um dann an ausgewählten Beispielen aus der mittelalterlichen deutschsprachigen Erzähldichtung deren Erklärungspotential zu testen. FB 02 Institut für Germanistik Das Seminar ist ein Diskussionsraum, keine Vorlesung. Dementsprechend soll es zwar Arbeitsgruppen zu einzelnen Themen und Texten geben, an denen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich aktiv beteiligen, aber der Anteil von Referaten sollte nicht mehr als ein Drittel ausmachen. Aus dem Seminar heraus werden wir gemeinsam den Wikipedia-Artikel -Raum (Literatur)- entstehen lassen. Leistungsnachweise können über die Anfertigung einer wissenschaftlichen Hausarbeit erworben werden. Im Seminar können Schlüsselqualifikationen erworben werden. Neben den üblichen Formen (Präsentation, Protokoll) gibt es die Möglichkeit, einzelne Abschnitte des Wikipedia-Artikels zu betreuen und so Erfahrung in dieser Form multimedialer Wissensaufbereitung zu gewinnen. Uni Kassel SoSe 2012 Germanistik/Deutsch Deutsch Zweitfach Prof. Dr. Mecklenburg Michael