Was bringen Noten und Zensuren? Was sind sie wert?

Veröffentlicht am: in der Kategorie: Besser Lernen

Haben Noten und Zensuren überhaupt irgend eine Aussagekraft? Macht es überhaupt Sinn Noten und Zensuren zu vergeben? Was nutzt mir ein Zeugnis, wenn ich das Wissen nicht anwenden kann? Mit diesen Fragen beschäftigen sich der Philosoph Richard David Precht und der Neurobiologe Gerald Hüther.

RDP: Aber was sind die Zensuren wert, wenn ich weiß dass es gar nicht darauf ankommt?

GH: Rückmeldungen über den gegenwärtigen Stand. Aus denen ich erkennen kann, ob ich noch Defizite habe, wo kann ich noch mehr arbeiten. Das will jeder Schüler, das brauchen Kinder, weil sie ja sonst ganz alleine in der Luft herumpaddeln.

 RDP: Sie sind Mitglied des Zukunftsrates der Bundesregierung, werden Sie gehört? Und wo werden wir in zehn Jahren stehen?

GH: Es ist eine der traurigsten Erfahrungen, die ich da machen müsste in diesem Zukunftsrat. Wir dürften da über das Lernen reden und als Experten sich über die Zukunft des Lernens die tollsten Gedanken machen, nur eines durften wir nicht. Wir durften nicht über die Schule reden. Wegen der Länder-Hoheit. Das ist eine der absurdesten Situationen, dass wir Schulsystem haben, was sozusagen gar nicht zentral gelenkt werden kann. Wo alle vier Jahre wenn eine neue Wahl ansteht, wieder eine neue Reform aufgeführt wird und zwar von der jeweiligen Regierung und das auch noch nicht mal im Interesse des Schulsystems, sondern im Interesse der Gewinnung neuer Wählerstimmen.
 RDP: Das heißt, was es bräuchte, wäre dann mehr Kompetenzen beim Bund und wie ich sie gerade verstanden als ich von Graswurzelnbewegung gesprochen habe, mehr Kompetenzen auf der kommunalen Ebene.

GH: Vielleicht brauchen wir noch viel mehr Verantwortlichkeit auf der kommunalen Ebene, weil dann hätte sowohl das Lang als auch der Bund nicht mehr so viel zu rein reden.

RDP: Wie schafft man das, wie überwindet man den Bildungsföderalismus?

GH: Ich bin kein Politiker, man kann natürlich solche Struktur dadurch in Bewegung bringen, dass die Menschen, die in diesen Strukturen leben nicht mehr damit einverstanden sind. Und wenn es genügend erwachsene Menschen in Deutschland gibt, die sagen: wir wollen das nicht mehr, und wir wählen auch keine einzige Partei mehr, die diese föderale Strukturen im Bildungssystem weiter aufrechterhalten will, dann Ändern sich auch die politische Haltungen sehr schnell. Dann kann es nur noch organisiert werden. Das heißt, wir erleben doch gegenwärtig eine Zeit, in der es auf die Mündigkeit und die Wahrnehmung der Eigenverantwortung der Bürger ankommt. Was wir also bräuchten ist eine Art bürgerschaftliches Engagement, eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die die Politiker zwingt diese andere Art von Schule zu unterstützen, den Rahmen dafür zu schaffen, dass sie entstehen kann, die im einundzwanzigsten Jahrhundert gebraucht wird. Sie werden es kaum von Oben anordnen können.

RDP: Aber Sie haben die härteste form des Problems, die darin besteht, dass diese Landespolitiker, die für Kultusfragen zuständig sind, sich selbst abschaffen müssen. Und jemanden freiwillig dazu zu überreden, ist ausgesprochen schwierig. Und selbst wenn sie Mehrheiten dagegen organisieren können, wird sie sich in Form der Parteien nicht niederschlagen können, weil die Parteien froh sind, dass auf Länderebene diese Kompetenz überhaupt besteht. Länder haben nur vier Schlüsselkompetenzen und von allen diesen vier Kompetenzen, ist Bildung noch das Wichtigste. Das heißt Sie depotenzieren Länder. Das lassen die Länder natürlich von Sich aus nicht machen.  

GH: Dann müssen Sie einen anderen Weg gehen, dass einzelne Länder möglich machen, dass sich innerhalb ihres Bundeslandes Verhältnisse so verändern. Ich bin in Thüringen in einem Modellprojekt engagiert, das heißt neue Lernkulturen in Kommunen. Das Thema ist: wir öffnen die Kindergärten und die Schulen in einer Kommune für das, was für die Kinder und Jugendliche in dieser Kommune zu entdecken und zu gestalten (und vor allem an wichtigen Dingen) gibt, um das sie sich kümmern können. Da öffnet sich plötzlich die Bedeutung der Schule, das heißt Schule wird weniger bedeutsam, es entstehen Lernfelder in der Kommune, und wenn solche Länder solche Programme fahren, meinetwegen auch erstmal alleine, dann werden die anderen schon sehen was da plötzlich an neuen Qualitäten entsteht.

RDP: Es ist also denkbar, dass es einen Dominoeffekt dann gibt. Aber Sie wissen, dass Sie dabei eine Verfassungsreform brauchen und zwar in fundamentalster Form. Also die Abschaffung der Bildungskompetenzen der Bundesländer ist verfassungsrechtlich  gesehen ausgesprochen schwierig. Ich glaube da müssen Sie mit Tricks arbeiten um es halbwegs hinzubekommen. Ich meine, die Alliierten haben sich das gut überlegt, diese Kompetenz auf Länderebene zu legen. Man darf das nicht vergessen, wo kommt das überhaupt her, dass Bundesländer für die Schulen zuständig sind. Und es kommt daher, dass damals die Alliierten nach 1945 großen Wert darauf legten, dass sich Naziideologie in Deutschland nicht mehr weiter ausbreiten kann. Das ist der einzige Grund warum das so ist. Denn wodurch werden die Ideologien ausgebreitet? Durch die Polizei, weil diese sie zweifelsfrei durchsetzen kann, durch Kirchen, durch Medien und die Schulen. Daher diese Kompetenzen haben die Länder bekommen. Das ist natürlich aus heutiger Sicht ein völlig antiquiertes Modell, weil diese Gefahr nicht mehr besteht. Aber ein mal bestehende Struktur zu ändern ist eine der schwierigsten Dinge die es überhaupt gibt.

GH: Das müssen Sie mir als einem Hirnforscher gar nicht sagen. Wir haben ja bis vor wenigen Jahren geglaubt, dass einmal im Hirn entstandene Strukturen, sich auch nicht ändern können. Und jetzt sage ich Ihnen - das geht! Aber es geht nicht von allein, sondern im Hirn muss etwas dazu kommen was man Begeisterung nennt, Leidenschaft, emotionale Aktivität. Und in einer Gesellschaft, wenn da etwas passieren soll, das wird nicht mit Argumenten gehen. Auch nicht indem man die Köpfe der Politiker austauscht, sondern indem in dieser Gesellschaft, in diesen Menschen so etwas wie Leidenschaftlichkeit wieder erwacht. Indem die sich plötzlich wieder verantwortlich fühlen für unsere Kinder. Was wird denn aus unserem Land, oder was wird überhaupt aus einem Land, welche Zukunft werden wir haben, wenn wir unser Schulsystem nicht so umgestalten, dass wirklich hier junge Menschen aus diesem System herauskommen, die in der Lage sind das alles fortzuführen, was hier entstanden ist und es sogar weiter zu entwickeln.  Die in dieser  globalisierten Welt ihren Mann stehen und Frau stehen haben und sich dort auch zurecht finden. Wir können doch alle einpacken. Verwaltungsstrukturen ähnlich wie Hirnstrukturen die ungünstig geworden sind, erzeugen über kurz oder lang solche Reibungsverluste, dass das System sich sozusagen anfängt neu zu organisieren. Im Hirn weiß ich es ziemlich genau, wie sich das neuorganisiert. Nun in der Gesellschaft wird es sich auch neu organisieren in dem wir darüber reden, sondern in dem wir losgehen. Wir haben keinen Erkenntnisdefizit. Wir wissen genau, wie es besser werden sollte. Wir haben einen Umsetzungsdefizit. Gegen diese Umsetzungsbarrieren werden nicht die Politiker rennen, auch nicht die Kultusministerkonferenzen. Gegen diese Umsetzungsbarrieren in unserem Land, die Kinder und Jugendliche daran hindern, die Potenziale die in ihnen drin stecken zu entfalten, dann müssten die Bürger in diesem Lang anrennen.

RDP: Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.