Wieso manche Schüler verlassen die Schule ohne irgendeinen Abschluss?

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Auszug aus dem Gespräch zwischen Richard David Precht und Gerald Hüther zum Thema: Schulsystem, macht die Schule dumm? Ein interessantes Interview und eine recht scharfe Kritik des vorhandenen Schulsystems.

Fünf bis zehn Prozent eines Jahrgangs, je nach Region, verlassen die Schule ohne irgendeinen Abschluss, die meisten von denen werden anschließend Harz IV Empfänger. Wenn man sie frühzeitig coachen würde, durch Potenzialentfaltungs-Coaches, wenn sie schon im Kindergarten frühgefördert würden, wenn man auf sie eingeht, zum Beispiel weil sie auf Grund ihres Migrationshintergrundes nicht entsprechend deutsch sprechen können und die ganze Zeit Frustrationserfahrungen sammeln anstatt aus Begeisterung zu lernen, wenn man diesen Kindern von Anfang an Chancengerechtigkeit widerfahren lässt, in dem man sie dort abholt wo sie stehen, dann müsste man sich um dieVerteilungsgerechtigkeit, nämlich den Ausgleich dann später von Steuereinnahmen Harz IV zu bezahlen eigentlich gar keine Sorgen machen. Mit anderen Worten: Harz IV ist eigentlich so etwas wie eine Entschädigung für nichtgewährte Chancengleichheit.

Richtig! Und das kann sich keine Gesellschaft leisten. Und diese Kinder haben natürlich genügend Potenziale. In jedem Kind steckt ein solches Potenzial drin. Jedes Kind ist auf seine Weise hochbegabt. Nur unser komischer Bildungsbegriff verwechselt die Fähigkeit sich in diesem Schulsystem einigermaßen durchzuschlagen, mit Begabung.

RDP: Was meinen Sie, wenn Sie sagen: jedes Kind ist hochbegabt. Manche Menschen würden sagen: das ist ein frommer Wunsch oder aus Esoterik so etwas zu behaupten. Aber Sie haben etwas spezielles im Auge oder?

GH: Es gibt da viel mehr was Kinder können, als nur analytisch in der Schule irgendwelche Formel zu begreifen. Das was wir im Augenblick in unserer Gesellschaft für ganz besonders wichtig erachten und was wir dann mit diesem Begabungskonzept belegen, das sind ganz bestimmte Fähigkeiten, die aber bei weitem nicht das sind, (und auch nicht die wichtigsten Fähigkeiten sind) die ein Mensch braucht um sich später im Leben zurecht zu finden. Es gibt Kinder, die haben eine unglaubliche Begabung in ihrer Sensibilität. Die können ihren Körper wunderbar wahrnehmen. Es gibt Kinder, die können spüren was in einem an deren vor sich geht, die haben so eine Art Mitgefühl und die Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen. Es gibt Kinder die haben einen unglaublichen Ehrgeiz und wollen unbedingt etwas leisten. Also jedes Kind hat etwas besonderes was es mit auf die Welt mitbringt. Die Aufgabe von Schule müsste dann nicht sein, sie jetzt alle gleichzumachen. So wie in diesem Kinderbuch, wo die Ente und der Haase und der Fisch, die in der gleichen Weise alle unterrichtet werden, bis die Ente nicht mehr schwimmen kann, der Haase nicht mehr springen kann und der Fisch sich im Wasser nicht mehr zurechtfinden kann. Also wir bräuchten eigentlich eine Schule, in der jeder seine besondere Begabungen und das was in ihm drin steckt, auch wirklich zu Entfaltung bringen kann.

RDP: Das heißt, unsere antiquierte Vorstellung von Begabung, die sogar so weit reicht, dass manche Eltern glauben, dass ihre klugen Kinder nicht nur deswegen schlau sind, weil sie sich frühzeitig um sie gekümmert haben, sondern weil sie wahrscheinlich genau so intelligente Gene haben, wie ihre Eltern. Da gibt es ja eine ganze Reihe von mythischen Vorstellungen, die jedem Biologen eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Bezüglich der Vererbung von Intelligenz oder von Begabung. Dieses Begabungskonzept führt am Ende nicht dazu, dass unsere Schulen einen besonderen Ertrag bringen, ein besonderes hochbegabten Schülern und Absolventen, sondern führt eigentlich dazu, das Schwarz-und-Weiß der verschiedenen Kinder dann zu einem Grau mischen und am Ende nicht diejenigen Belohnen noch mir Zensuren, die sich ein hohes Maß an Begeisterungsfähigkeit, Originalität und vielleicht nicht auf den ersten Blick als nützlich erachteten Begabungen bewahrt haben, sondern die dagegen belohnt, die sich am besten angepasst haben.

GH: Ja, und stellen Sie sich jetzt vor was das für eine Gesellschaft ist, in der sich alle anpassen an das was Durchschnitt ist. Was im System verlangt wird. Wissen was das für eine Gesellschaft ist? Die kann sich gar nicht mehr weiter entwickeln.

RDP: Das würde doch bedeuten, dass das was wir unter Begabungsförderung verstehen, das was wir unter Begabungsselektion verstehen einschließlich unseres dreigliedrigen Schulsystems, all das macht ja am Ende das aus den Kindern, was wir negativ immer dem Sozialismus vorgeworfen haben. Eine Gleichmacherei, die auf die einzelnen Potenziale endlich ja gar nicht eingeht. Das heißt, leben wir eigentlich in einem Wahn bezüglich unserer freiheitlichen Förderung der Kinder?

GH: Das ist ein hartes Argument. Aber wenn man es ernst nimmt, entwickeln wir in der Schule nicht das was wir bräuchten, nämlich Individualität, dieses Leidenschaftliche, was in jedem einzelnen Menschen drin steckt und was jeder Mensch braucht, damit er sich als einzelne Person später spürt, sondern wir machen aus allen das Ähnliche. So wie ein Obstgärtner, der alles auf die gleiche Länge zurechtschneidet, damit maximaler Ertrag herauskommt. Aber es geht nicht um Ertrag. Bildung ist nicht was man in Metaphern messen kann, die dann am Ende „erfolgreich" heißen. Man kann niemanden erfolgreich bilden. Bildung ist etwas was sich ereignet und das kann bestenfalls gelingen und das hat unsere Gesellschaft glaube ich überhaupt nicht verstanden. Dass man Bildung nicht machen kann, sondern dass man nur einen Rahmen bieten kann, innerhalb dessen Bildung gelingt.